Als langjähriger Volkskundler bin ich immer wieder aufs Neue fasziniert von der Fülle und Vielfalt an Geschichten, die in unterschiedlichen Kulturen entstanden sind. Viele dieser Erzählungen spiegeln universelle Themen wider, wie Liebe, Verlust, Mut oder eben auch Gier und deren oft bitteren Folgen. Heute möchte ich euch ein besonders interessantes Märchen aus dem 14. Jahrhundert aus Nigeria vorstellen: “The Venomous Tortoise”. Dieses Werk bietet nicht nur einen faszinierenden Einblick in die damalige Kultur und Lebensweise, sondern wirft auch spannende Fragen über menschliche Natur und Moral auf.
Die Geschichte handelt von einem Schildkröten namens Tortoise, der bekannt für seine List und seinen Hang zum Überlegenheitsgefühl ist. Eines Tages beschließt er, alle Tiere im Dorf zu überlisten, um sich selbst als den klügsten und mächtigsten unter ihnen darzustellen. Er prahlt mit seiner Fähigkeit, die Sprache der Menschen zu verstehen und behauptet, dass er sogar Zugang zu deren geheimen Wissen habe. Um seinen Worten Gewicht zu verleihen, erfindet Tortoise eine Geschichte darüber, wie er einst in einem menschlichen Dorf gelebt habe und dort wertvolle Lehren empfangen habe.
Die anderen Tiere, insbesondere die Hasenfamilie, fällt Tortoises Täuschung nicht auf. Sie glauben ihm blind und erkennen nicht, dass er sie gezielt manipuliert. Tortoise nutzt diese Naivität aus und überzeugt die Tiere, ihm bei einem gefährlichen Unternehmen zu helfen: Er will eine magische Frucht aus dem Herzen des Dschungels holen, die angeblich Glück und Weisheit verleihen soll.
Hier beginnt der eigentliche Clou der Geschichte. Tatsächlich existiert die magische Frucht – sie wächst an einer schwer zugänglichen Stelle auf einem hohen Baum. Aber Tortoise ist schlau: Anstatt selbst den Weg zu beschreiten, schickt er die anderen Tiere als Vorhut los. Er gibt ihnen genaue Anweisungen, welche Wege sie nehmen sollen und welche Gefahren sie meiden müssen.
Die Hasenfamilie folgt Tortoises Anweisungen blindlings. Sie kämpfen sich durch dichten Dschungel, überqueren reißende Flüsse und meiden gefährliche Raubtiere. Schließlich erreichen sie den Baum mit der magischen Frucht. Doch bevor sie sie pflücken können, lauert ihnen eine große Gefahr:
Ein riesiger Anakonda schläft unter dem Baum und bewacht die Frucht. Die Hasen müssen alle ihre Klugheit und Geschicklichkeit einsetzen, um den Anakonda zu überlisten und an der Frucht vorbeizukommen.
Währenddessen wartet Tortoise gemütlich im Dorf auf die Rückkehr der Hasen. Er hat keine Angst vor dem Anakonda und weiß genau, dass die Hasen für ihn arbeiten werden – und am Ende auch für seine Belohnung sorgen werden.
Charakter | Eigenschaften |
---|---|
Tortoise | listig, gierig, arrogant |
Hasenfamilie | naiv, treuherzig, fleißig |
Anakonda | mächtig, gefährlich, beschützend |
Die Geschichte endet mit einem entscheidenden Moment: Die Hasen kehren schließlich erschöpft und verletzt mit der magischen Frucht zurück. Tortoise ist begeistert – doch bevor er die Frucht an sich nehmen kann, offenbaren ihm die Hasen seine Lüge. Sie haben während ihrer gefährlichen Reise erkannt, dass Tortoise sie nur ausgenutzt hat und nie beabsichtigte, selbst den Weg zum Baum zu gehen.
Enttäuscht und wütend entschließen sich die Hasen, die magische Frucht nicht mit Tortoise zu teilen. Stattdessen brechen sie die Frucht auf, teilen sie untereinander auf und lernen daraus eine wichtige Lektion: Man sollte immer kritisch denken und nicht blindlings glauben, was andere einem erzählen, besonders wenn es um Eigeninteressen geht.
Tortoise hingegen bleibt leer ausgegangen und lernt, dass Gier und Unehrlichkeit letztlich zu seinem eigenen Untergang führen.
“The Venomous Tortoise” ist mehr als nur eine einfache Geschichte für Kinder. Sie ist ein Spiegelbild der menschlichen Natur, mit all ihren Schwächen und Stärken. Die Geschichte zeigt uns, wie wichtig es ist, kritisch zu denken, sich nicht von Scheinbildern blenden zu lassen und eigene Entscheidungen zu treffen – auch wenn es bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen.
Und wer weiß: Vielleicht erinnert uns “The Venomous Tortoise” ja auch daran, dass die besten Belohnungen oft nicht materieller Natur sind, sondern in der Erfahrung, im Lernen und in der ehrlichen Zusammenarbeit mit anderen liegen.